Nein, nicht „die“ Wirtschaft. Es gibt auch anständige Unternehmen, jedenfalls Familienunternehmer, auch Manager, Handwerksmeister, Geschäftsführer, Leitungen öffentlicher Einrichtungen, auch Konzernvorstände, überhaupt Selbständige aller Art, die wissen, dass Ethik jener Teil der Philosophie ist, in dessen Mittelpunkt moralisches Handeln steht. Vielleicht ist nicht immer klar, was moralisches Handeln ist, in unserer Kultur ist jedenfalls unmoralisch, wer das menschliche Leben nicht als höchstes Gut behandelt.
Ausgerechnet der Ethikverband der Deutschen Wirtschaft kritisiert: „Insbesondere vom Bundesfinanzminister wünschen wir uns keine moralisierenden Totschlagargumente, die außer Acht lassen, dass es derzeit um Existenzen geht.“

Was hatte Olaf Scholz eigentlich gesagt? „Ich wende mich gegen jede dieser zynischen Erwägungen, dass man den Tod von Menschen in Kauf nehmen muss, damit die Wirtschaft läuft.“
Und das findet der Ethikverband der Deutschen Wirtschaft falsch und kritisiert. Diese Kritik erklärt sich leicht, denn auf der Website des sogenannten Ethikverbandes findet sich: „Wir begleiten und beraten Unternehmen bei der Erarbeitung einer unternehmensgerechten Werteorientierung, eines unternehmensspezifischen Ethikkodex.“
Ziel des Verbandes ist es also nicht, die Unternehmenspolitik und unternehmerisches Handeln auf unsere allgemeinen ethisch-moralischen Wertevorstellungen zu orientieren, nein, es geht darum, die Werteorientierung unternehmensgerecht zu erarbeiten.
Jedem Unternehmen also die eigene Werteorientierung. Es geht demnach auch nicht um Ethik, (vielleicht im Kant‘schen Sinne) also um Regeln, an denen wir uns im Entscheidungsprozess orientieren, nein, es geht darum, die Regeln einem „unternehmensspezifischen Kodex“ anzupassen.
Insofern es sich unternehmensspezifisch durchaus auszahlen kann, in einem Unternehmen nur Arbeitnehmer unter 50 oder unter 60 zu haben – wir kennen das Phänomen aus den 90er Jahren, es hieß Jugendwahn und führte zu „Freisetzungen“ vieler erfahrener Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer – lässt sich eine „unternehmensgerechte“ Ethik begründen.
Diese Maßstäbe, dieser Ethikbegriff erklärt die Kritik des Verbandes. Verräterisch ist auch die Wortwahl „moralisierendes Totschlagargument“. Denn eigentlich orientiert sich der Satz von Olaf Scholz an unseren Moralvorstellungen zum Leben als höchstes Gut. „Moralisieren“ soll aber diese Vorstellungen in die Sphäre der Übertreibung rücken, ja vielleicht sogar des Unanständigen.
Der Verband gibt aber noch tiefere Einblicke in sein Inneres: es gehe „derzeit um Existenzen“. Irgendwie lässt der Begriff „Existenzen“ noch offen, was gemeint ist. Aber mit Blick auf die Reaktion des Verbandes auf Olaf Scholz wird deutlich, dass es nicht um die menschliche Existenz geht, sondern um die Existenzen von Unternehmen.
Nun ist einzuwenden, und in so manchem Brief von Unternehmern, die durch Corona unter Druck geraten sind, wird das auch deutlich, dass viele Menschen ja ohne Unternehmen nicht lange werden überleben können. Keine Produkte, keine Arbeit, kein Lohn. Gelegentlich wird vergessen, dass auch Unternehmen auf Dauer nicht ohne Menschen überleben können. Vielleicht noch in automatisierten Produktionsprozessen, aber selbst solche Unternehmen kommen auf Dauer nicht ohne Kundinnen und Kunden aus.

Ironischerweise verdanken die Unternehmer und Unternehmen ausgerechnet den Ministerinnen und Ministern der SPD besonders viel, weil diese sich als kreativ, entscheidungsstark und handlungsfähig erwiesen haben. Gerade diese Minister*innen haben geholfen, in einer bisher ungeahnten Dimension hunderte Milliarden als Zuschüsse, Geld für Kurzarbeitszeiten, Bürgschaften und Kredite für Unternehmen und Arbeitnehmer verfügbar zu machen. Deshalb muss ein sogenannter Ethikverband nicht erklären, dass es um die Existenz von Unternehmen geht.
Umgekehrt wäre es an der Zeit, dass ein solcher Verband lernt, dass eine „unternehmensgerechte Werteorientierung“ und ein „unternehmensspezifischer Ethikkodex“ unethisch sind.
Wie unethisch viele Unternehmen sind und handeln, natürlich in Übereinstimmung mit dem Ethikverband der Wirtschaft, ist leicht daran zu erkennen, wie Ressourcen verbraucht werden, wie unsere Meere aussehen, beim Einsatz von Kinderarbeit, wie viele Schwarzarbeitgeber es gibt, beim Kampf um niedrige Tarife für Arbeitnehmer, bei vollen Taschen von Managern. Dies sind die Folgen einer unternehmensgerechten Werteorientierung.
Dieser zynisch umgedeuteten Ethik setzen wir einen Ethikbegriff entgegen, der jeden Menschen gleich wertschätzt.
Und der Idee, die Wirtschaft könne in aller Ruhe weiterlaufen, während man die Alten isoliert, werden wir nicht folgen. Diese Idee ist nicht nur medizinisch falsch, denn auch junge Menschen können infiziert werden und sterben, diese Idee missachtet auch den Wert der Alten für die Wirtschaft.
Eine Wirtschaft, die sich nur an der unmittelbaren Nützlichkeit orientiert, nur an der unmittelbaren Verwertbarkeit der Menschen, eine Wirtschaft, die Erfahrung nicht zu schätzen weiß, ist nicht nachhaltig. Aber dass es stets große Teile der Wirtschaft gibt, die auf Nachhaltigkeit keinen Wert legt, entspricht durchaus der bisherigen Erfahrung.
Der Vorschlag, nur die Alten in Quarantäne zu stecken, zeigt noch etwas. Als die Nachrichten schon tagelang mit Corona-Informationen unterwegs waren, wer war da eigentlich noch auf den Après-Ski-Parties zu finden? Wer hat da noch Corona-Parties gefeiert… bestimmt die Alten.
Was wäre eigentlich, wenn? Unsere Wirtschaft und unser Bruttoinlandsprodukt wachsen seit über 70 Jahren in fast allen Jahren. Wenn Wirtschaft und BIP nun in diesem Jahr etwas oder auch etwas stärker schrumpfen und wir würden auf dem Niveau von 2015 oder 2010 landen – wie dramatisch wäre das eigentlich wirklich?
Aus der Wirtschaft hören wir auch Stimmen, die sich den Ethikbegriff des Ethikverbandes der Deutschen Wirtschaft schon zu eigen gemacht haben: hier das Zitat eines Unternehmensberaters (Name bekannt). Er schreibt: „Mein Eindruck ist, dass Sie und alle anderen Volksvertreter lediglich im Interesse der Rentner – also Ihrer eigenen Generation – agieren. Es kann nicht sein, dass sie sich davor scheuen, dieser Generation die bittere Nachricht zu überbringen, dass sie sich jetzt für unabsehbare Zeit isolieren muss, während andere arbeiten und feiern dürfen. Nicht falsch verstehen: ich habe selbst auch noch Eltern, die meine Kinder vermissen und von mir und meinen Kindern sehr vermisst werden. Nur müssen die eben von den gesunden Jungen versorgt werden, aber wie soll das gehen, wenn die Politik uns alles zerstört?“
Ein weiteres Beispiel (auch hier ist der „Botschafter“ namentlich bekannt):
„Und ja, es sterben immer wieder auf ein paar jüngere Menschen. Aber erstens wird in den Medien nicht mehr unterschieden, ob die an oder mit Corona sterben; und außerdem ist das Leben einfach tödlich, ein gewisses Risiko hat man immer. […] Lockern Sie die Beschränkungen unter möglichst effektiver Isolation der Risikogruppen…. DAS ist alternativlos.“
Auf dem Niveau des Ethikverband der Deutschen Wirtschaft gefragt: Wie viele Tote wären diesem Verband denn ein voreiliges Hochfahren der wirtschaftlichen Aktivitäten wert? Denn eins ist sicher: wenn die Großeltern der ethischen Ethikverbandsvertreter betroffen sein werden oder eines ihrer Kinder – Schuld wäre allein die SPD, im besten Falle noch „die Politik“.
Wenn wir in Deutschland so viel falsch machen wie Donald Trump, Jair Messias Bolsonaro oder Boris Johnson, dann gehen wir schrecklichen Zeiten entgegen. Folgen wir den wissenschaftlichen Empfehlungen im Umgang mit der Corona-Pandemie, wird die Krise glimpflicher ablaufen – auch deshalb, weil in Deutschland ein vergleichsweise gutes Gesundheitswesen aufgebaut wurde. Ein Ergebnis der über 70-jährigen Arbeit vieler Bürgerinnen und Bürger – aber auch von demokratischen Parteien in unserer Demokratie.
Gleichwohl können auch in Deutschland schwierigste Entscheidungen in Grenzerfahrungen notwendig werden. Diese Entscheidungen können wir nicht per Gesetzgebung antizipieren, also vorwegnehmen.
Die Deutsche Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und die Empfehlungen der Fachgesellschaften für Akut- und Intensivmedizin geben Hinweise, wie knappe Ressourcen während der Covid-19-Pandemie verteilt werden sollten. Danach soll nicht das kalendarische Alter als Entscheidungskriterium dafür genommen werden, ob Patienten behandelt werden oder nicht. Die Entscheidung solle sich stattdessen am Gesundheitszustand der Patienten und – falls möglich – an einer Patientenverfügung orientieren.
Wir beobachten erneut: in einer Krise zeigt sich der wahre Charakter.
Lothar Binding für den Bundesvorstand der AG SPD 60 plus
Erschienen als Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau am 9. April 2020
Lothar Binding ist auch Finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, mehr über ihn erfährt man auf www.lothar-binding.de/